"Hamas-Attacke für Netanjahu wie 11. September für Bush"
Izrael. Atak Hamasu na miasto Ashkelon PAP/EPA/ATEF SAFADI

„Hamas-Attacke für Netanjahu wie 11. September für Bush“

Wie sollte Israel auf den Überraschungsangriff der Hamas reagieren? Welche weitreichenderen geopolitischen Konsequenzen hat die Attacke? Und: Welche Lehren sollte Polen aus dem Scheitern der israelischen Geheimdienste ziehen? Der Angriff der Hamas auf Israel dominiert die Titelseiten der Tagesblätter. Es geht aber auch heute wieder um Kontroversen rund um die für heute angesetzte TV-Debatte der sechs größten Wahlkomittees im öffentlichen Fernsehen. Die Einzelheiten in der Presseschau. Dies wird von Upmp.news unter Bezugnahme auf „Polskie Radio“ gemeldet.

Dziennik Gazeta Prawna: Hamas-Attacke für Netanjahu wie 11. September für Bush

In den Überfällen der Hamas seien deutlich Spuren der persischen Kriegskunst zu erkennen, urteilt der Publizist des Tagesblatts Dziennik Gazeta Prawna, Zbigniew Parafianowicz. Der Iran, der seit Jahren in Stellvertreterkriege im Nahen Osten verwickelt sei, so der Autor, wisse, wie man die Diskrepanz im militärischen Potenzial ausnutze und wie man das, was auf den ersten Blick eine Schwäche zu sein scheine, zu seinem Vorteil verwenden könne.

Wenn ein Hamas-Kolonel ein Nokia 3110-Mobiltelefon ohne Netzwerkzugang verwende, sei eine Predator-Drohne machtlos gegen ihn. Wenn eine Gruppe von Terroristen mit Gleitschirmen eine Luftlandung durchführe, könne sie nicht mit einem Patriot-Abwehrsystem abgeschossen werden. Auch die neueste Spionagesoftware könne die Entschlossenheit von Menschen, die Tunnel graben, um Waffen und Munition zu transportieren, nicht stoppen.

Wie der Autor beobachtet, handle Israels Premierminister Netanjahu – oder spreche zumindest –  in seiner ersten Reaktion auf den Angriff, im Widerspruch zur Doktrin des legendären Mossadchefs und Soldaten der Sayeret Matkal Einheit Dagan. Dagan sei überzeugt gewesen, dass ein Staat nicht an groß angelegten Konfrontationen teilnehmen dürfe, es sei denn, es sei notwendig, um sein Überleben zu sichern. Der in Cherson geborene Aluf habe nicht geglaubt, dass der Erfolg des Sechstagekrieges wiederholt werden könne, und dass in zukünftigen Auseinandersetzungen präzise und gut kalkulierte Schläge notwendig seien.

Nach dem Überfall der Hamas, fährt Parafianowicz fort, sei die Existenz Israels nicht bedroht. Netanjahu stehe nicht mit dem Rücken zur Wand. Die Terror-Organisation ziele eher darauf ab, ihn zu einer breiten Konfrontation mit der arabischen Welt zu provozieren. Hier sei auch eine klare Übereinstimmung der Interessen mit dem Iran erkennbar. Sowohl Teheran als auch die Hamas würden darauf hoffen, dass der Wahn des Premierministers die Tauwetterperiode in den jüdisch-saudischen Beziehungen stoppen werde.

Wenn der Krieg gegen den Terrorismus nach Netanjahus Version den von den Feinden des Staates Israel vorgeschlagenen Weg einschlage, könne die Region für Jahre in Instabilität versinken. Es sei denn, Netanjahu, auch ein Soldat der Sayeret Matkal, folge den Prinzipien der Doktrin des inzwischen verstorbenen Geheimdienstchefs.

Als Dagan sein Amt niederlegte und ein Freund von Netanjahu, Tamir Pardo, sein Nachfolger wurde, hätten die Regierungsmitglieder den scheidenden Militär mit einer Standing Ovation geehrt. Wenn die Kriegsemotionen nicht die Oberhand gewinnen und Netanjahu den Ratschlägen der Legende folge, werde Israel gewinnen, so Zbigniew Parafianowicz in Dziennik/Gazeta Prawna. 

Rzeczpospolita: Rückkehr zum Naturzustand

Der Politologe Marek Cichocki macht in seiner Stellungnahme für die konservativ-liberale Rzeczpospolita auf die geopolitischen Implikationen der Eskalation aufmerksam. Antiwestliche Revisionisten aus Russland, Iran und China, lesen wir, würden vor unseren Augen eine Weltordnung entwerfen, in der offene Gewalt wieder ein Instrument zur Erreichung politischer Ziele werde. Erst vor Kurzem hätten wir Bilder des menschenleeren Stepanakert gesehen, der Hauptstadt der von Aserbaidschan nicht anerkannten und besetzten armenischen Republik Bergkarabach. Am Samstag hätten Medien weltweit Bilder kommentiert, die Kämpfer der terroristischen Hamas zeigten, wie sie Zivilisten aus ihren Häusern in den Städten Südisraels gezogen, sie vor Ort ermordet oder als Geiseln genommen haben. 

Was die Invasion in der Ukraine, die bewaffnete Eliminierung des armenischen Separatismus in Bergkarabach und den überraschenden Angriff auf Israel verbinde, sei die von antiwestlichen Revisionisten aus Russland, Iran und China entworfene neue Weltordnung. Oder eher eine Rückkehr zum Naturzustand, in dem offene bewaffnete Gewalt wieder ein Mittel zur Erreichung politischer Ziele werde. In dieser neuen Welt würden kleinere Nationen und Staaten wieder zum Spielball im Kampf aggressiver Mächte. Diejenigen, die nicht den Mut oder die Fähigkeit hätten, ihre Grenzen und Territorien zu verteidigen, würden zerstört, und ihre Bevölkerung werde ermordet oder zu Geiseln degradiert.

Wie die Ukrainer, Armenier und Israelis am eigenen Leib erfahren hätten, sei diese düstere Vision bereits Realität geworden. Aber dieser bedrohliche Schatten der neuen Welt betreffe alle, die an verschiedenen Orten lebten, wo Mächte aufeinandertreffen, einschließlich der Bewohner der baltischen Staaten, Polens, Finnlands oder Rumäniens. Leider seien sich offenbar nicht alle in Europa der gerade stattfindenden Veränderung und der Schwere ihrer Konsequenzen bewusst. Nicht nur in Brüssel, sondern auch in vielen anderen europäischen Hauptstädten überwiege das alte Denken, dass der neue Naturzustand der Welt Europa nur indirekt als Welle neuer Migrationen oder Störung der Lieferketten bedrohe, also als Probleme, die technokratisch gelöst werden könnten. Für diese völlig falsche Berechnung könnte Europa einen hohen Preis zahlen, warnt Marek Cichocki in der Rzeczpospolita.

Gazeta Wyborcza: PiS sollte aus dem Angriff der Hamas eine Lehre ziehen

Der Überfall der Hamas sollte auch direkte Konsequenzen für die Innenpolitik Polens haben, meint der Publizist der linksliberalen Gazeta Wyborcza, Bartosz Wieliński. Vor allem die Regierungspartei PiS, so der Autor, sollte aus dem, was in Israel geschehen sei, Lehren ziehen. Viele würden darauf hinweisen, dass die israelischen Geheimdienste und das Militär die Vorbereitungen für die Offensive übersehen hätten. Und israelische Experten, mit denen das Blatt gesprochen habe, würden betonen, dass das Versagen der Spezialdienste das Ergebnis des Krieges sei, den der populistische Premierminister Benjamin Netanjahu gegen sein eigenes Volk geführt habe.

Hunderttausende Menschen hätten ständig auf den Straßen israelischer Städte gegen die von Netanjahu vorangetriebene „Justizreform“ protestiert, erinnert Wieliński. Diesen großen sozialen Protest hätten Militärs und Mitarbeiter staatlicher Institutionen unterstützt. Anstatt darauf zu achten, was die Feinde seines Landes taten, habe Netanjahu die Ressourcen des Staates auf die Überwachung der Opposition gerichtet. “Klingt irgendwie bekannt?”, fragt Wieliński rhetorisch. 

In Polen, so der Publizist, würden sich die Polizei und die Spezialdienste seit acht Jahren mit politischen Gegnern beschäftigen. Während der letzten Wahlen seien Oppositionspolitiker mit dem Spionagesystem Pegasus ausspioniert worden. Das Militär sei auf die Rolle von Teilnehmern an Paraden reduziert worden. Im Dezember sei eine russische Rakete durch halb Polen geflogen. Das Militär und die Dienste seien ein halbes Jahr lang nicht in der Lage gewesen, sie zu finden, obwohl das Geschoss einen eine halbe Tonne schweren Gefechtskopf tragen konnte. Im August seien belarussische Hubschrauber mehrere Kilometer tief in polnisches Territorium geflogen. Das Militär habe sie nicht erkannt, niemand habe auf die Verletzung des Luftraums reagiert. Die Politiker der Regierungspartei würden auf Wahlkampfveranstaltungen über Sicherheit belehren, die sie in Wirklichkeit gefährden. Das Beispiel Israels zeige, wie hoch der Preis sei, den man für solche Fehler zahlen müsse, so Bartosz Wieliński in seiner Analyse.

Rzeczpospolita: Das wird ein Aufeinandertreffen zwischen Rachoń und Tusk

Stichwort innenpolitische Kämpfe. Die für heute angesetzte Wahlkampf-Debatte im öffentlichen Fernsehen TVP erhitzt weiterhin die Gemüter der Kommentatoren. Auch in einer aktuellen Umfrage für die Rzeczpospolita, haben knapp 60 Prozent der Polen die Entscheidung von PiS-Chef Jarosław Kaczyński, nicht an der Debatte teilzunehmen, negativ bewertet. Taktisch sei diese Entscheidung aber verständlich, schreibt in seinem Kommentar der Publizist der Rzeczpospolita, Jacek Nizinkiewicz. Die Teilnahme des in die Jahre gekommenen und rhetorisch schwächeren Kaczyński an der Debatte, so der Autor, hätte die Regierungspartei PiS in Verlegenheit bringen können. Deshalb werde Premierminister Mateusz Morawiecki an seine Stelle treten. Dies sei auch keine gute Wahl, aber es gebe keine bessere. Der aktuelle Premierminister sei der reichste Politiker in Polen, der nicht bereit sei, seinen Reichtum offenzulegen. Er sei ein Nutznießer der Veränderungen der Dritten Polnischen Republik, ein ehemaliges Mitglied des Wirtschaftsrates unter der Regierung von Donald Tusk und einer der Protagonisten der brisanten Aufnahmen im Restaurant „Sowa i Przyjaciele“ (die zur Wahlniederlage der Bürgerplattform beigetragen haben).

Morawiecki sei auch für die Anhebung des Rentenalters gewesen, wofür er heute die PO-PSL-Regierung angreife. Mit den instabilen Ansichten des Premierministers werde es leicht sein, die PiS zu treffen. Deshalb werde der Morawiecki während der Debatte sicherlich Unterstützung von Co-Moderator Michał Rachoń erhalten. Rachoń sei, wie Nizinkiewicz erinnert, ein ehemaliges Mitglied der PiS und Sprecher der Parteistrukturen in Sopot.  Er habe zudem zuletzt eine Pressekonferenz der Bürgerplattformchefs unterbrochen. Die Teilnehmer würden nicht miteinander in Dialog treten dürfen, aber es sei nicht gesagt, dass der Moderator die Antworten nicht kommentieren könne. Rachoń werde der Hauptangreifer gegen Tusk und ein Blitzableiter für Morawiecki in Bezug auf Vorwürfe der Opposition sein, so Nizinkiewicz. Trotzdem könnten die Oppositionspolitiker, alleine durch ihre Präsenz, einiges gewinnen, indem sie sich von ihrer besten Seite zeigen, die dem Narrativ der Regierenden widerspricht. Und die Regierungspartei habe einiges zu verlieren. Denn Morawiecki sei kein glaubwürdiges Gesicht der PiS. Wer weiß, ob er nach verlorenen Wahlen nicht wieder ins siegreiche Lager wechseln würde, schließt Nizinkiewicz seine Analyse.

Gazeta Wyborcza: Schmutzige Tricks vor der Debatte

Auch der Ort und Zeitpunkt der Debatte ist nicht unkontrovers, schreibt in einem Beitrag für die linksliberale Gazeta Wyborcza die Publizistin Agnieszka Kublik. Wie die Autorin berichtet, hätten zwei Mitglieder des TVP-Programmrats in einem Brief an den Intendanten ihre Besorgnis über die Art und Weise ausgedrückt, wie TVP seine Pflicht gemäß Artikel 120 des Wahlgesetzes und der Verordnung des Nationalen Rundfunk- und Fernsehrats vom 6. Juli 2011 über die detaillierten Regeln und Verfahren für die Durchführung von Wahldebatten erfüllt. Wie Ex-TVP-Chef Janusz Daszczyński und Krzysztof Luft, ehemaliges Mitglied des Nationalen Rundfunk- und Fernsehrats, betonen, sollte die Debatte ursprünglich um 21 Uhr stattfinden, nicht um 18:30. Niemand als der Intendant sei sich besser darüber im Klaren, dass diese zeitliche Änderung zu einer Verringerung der Einschaltquoten führen wird. Im Kontext der Mission der öffentlichen Medien sei eine solche Entscheidung völlig unverständlich. Ebenso, wie der Ort, an dem die Debatte stattfinden soll – in einem gemieteten ATM-Studio am Stadtrand. Wie die Autoren des Briefes betonen, hätten solche Debatten bisher immer im Hauptgebäude von TVP stattgefunden. TVP verfüge über viele hervorragend ausgestattete Studios und über Top-Spezialisten. Gehe es nach Luft, soll die Organisation der Debatte am Stadtrand den Anhängern der Opposition die Anfahrt und die Unterstützung ihrer Kandidaten vor dem Gebäude erschweren (im Studio soll es kein Publikum geben). Die Ratsmitglieder „bitten den Intendanten, diese unverständliche Situation zu klären“. „Nicht nur für uns, sondern auch für die gesamte Öffentlichkeit, denn das öffentliche Fernsehen gehört allen Bürgern“, lesen wir im Artikel von Agnieszka Kublik. 

TVN24: Ortswechsel in letzter Minute?

Kurz vor der Ausstrahlung der heutigen Sendung hat der Sprecher der Bürgerplattform, Jan Grabiec auf einer Pressekonferenz im Sejm mitgeteilt, dass sein Team beunruhigende Informationen darüber erhalten hat, laut denen TVP beabsichtigt, die schriftlichen Vereinbarungen über den Verlauf der Debatte zu brechen und laut denen diese nicht, wie vereinbart, im Studio am Stadtrand stattfinden wird, sondern eben doch im TVP-Hauptgebäude. Offenbar sollen die Teilnehmer in letzter Minute über den Ortswechsel informiert werden. Zudem werde auch ein Studio für das Publikum gebaut, obwohl die Teilnahme des Publikums ausgeschlossen wurde. Es würden Wähler, Sympathisanten und Aktivisten der PiS aus dem ganzen Land mit Bussen nach Warschau gebracht. Es sei ein weiterer Versuch, das Bild dessen, was in Polen passiert, und wie diese Debatte verlaufen wird, zu verzerren, so Grabiec.

Autor: Adam de Nisau